Das Paul-Scherrer-Institut (PSI) testet gemeinsam mit dem dänischen Start-up Copenhagen Atomics eine neue Reaktorgeneration: einen Thorium-Flüssigsalzreaktor im Containerformat. Was technisch fasziniert, politisch polarisiert – und für die Schweizer Versorgungssicherheit zur echten Option werden könnte.
???? Hintergrund: Forschung statt Kraftwerk
Unter dem Projektnamen BALDER bereitet das PSI in Villigen ein niederschwelliges Testexperiment vor. Dabei handelt es sich nicht um ein kommerzielles Mini-AKW, sondern um eine Forschungsanlage mit sehr geringer Leistung und begrenzter Laufzeit von rund 30 Tagen.
Ziel des Experiments ist es, physikalische und sicherheitstechnische Daten über Flüssigsalzreaktoren zu gewinnen – insbesondere zu Materialverhalten, Temperatursteuerung und Notfallmechanismen. Die Versuchsanlage gilt als risikoarm und soll zwischen 2026 und 2027 in Betrieb gehen.
⚡ Wie funktioniert ein Flüssigsalzreaktor?
Anders als klassische Kernkraftwerke arbeitet ein Flüssigsalzreaktor (MSR) nicht mit festen Brennstäben, sondern mit einer flüssigen Salzlösung, die zugleich Brennstoff und Kühlmittel ist.
Vorteile:
- Der Reaktor läuft bei niedrigem Druck, wodurch das Risiko mechanischer Brüche oder Explosionen stark sinkt.
- Durch sogenannte „Freeze-Plug“-Sicherungen kann sich der Reaktor bei Überhitzung selbst abschalten, indem das flüssige Salz automatisch in ein Auffangsystem abfliesst.
- Die Technologie erlaubt kontinuierliche Brennstoffnutzung und könnte theoretisch sogar bestehende Abfälle als Energiequelle nutzen.
Herausforderungen bestehen vor allem in der Materialbeständigkeit der Rohrsysteme, in der chemischen Stabilität der Salzgemische sowie in der Aufbereitung der Brennstoffe.
???? Das Container-Konzept
Copenhagen Atomics entwickelt Reaktoren, die in standardisierte 40-Fuss-Container passen sollen. Diese Module sollen eine Leistung von rund 100 Megawatt thermisch liefern und bei Bedarf kombiniert werden können.
Das Ziel ist ehrgeizig: Stromgestehungskosten von nur 2 bis 3 Rappen pro Kilowattstunde – günstiger als viele heutige erneuerbare Energien.
Erreicht werden soll das durch Serienfertigung, automatisierte Montage und weltweiten Einsatz in industriellen oder abgelegenen Regionen.
Doch derzeit handelt es sich um ein Forschungsversprechen, keinen marktreifen Standard. Der tatsächliche Nachweis der Wirtschaftlichkeit steht noch aus.
???????? Schweiz im Wandel: Vom AKW-Verbot zum Innovationslabor
Seit 2017 durften in der Schweiz keine neuen Kernkraftwerke mehr bewilligt werden. Mit der zunehmenden Stromknappheit im Winter und dem steigenden Stromverbrauch ändert sich jedoch der politische Kurs.
Der Bundesrat hat die Aufhebung des Neubau-Verbots angekündigt. Noch steht ein parlamentarisches Verfahren aus, und eine Volksabstimmung gilt als wahrscheinlich. Doch die Richtung ist klar: Neue Technologien sollen geprüft werden, sofern sie sicher, klimafreundlich und wirtschaftlich sind.
Das Projekt am PSI ist somit ein Signal – nicht für den Bau neuer AKWs morgen, sondern für eine offene, forschungsbasierte Energiepolitik.
???? Chancen- und Risiko-Matrix
| Kategorie | Chancen | Risiken | Einschätzung |
|---|---|---|---|
| Sicherheit | Tiefer Druck, passive Notabschaltung, kein Überdruckrisiko | Materialkorrosion, Salzchemie komplex | Vorteilhaft, aber technisch anspruchsvoll |
| Kosten | Serienfertigung senkt Investitionskosten | Unbewiesene Kostenziele, hohe Zulassungskosten | Ambitioniert, unbewiesen |
| Versorgungssicherheit | Wetterunabhängig, grundlastfähig, modular skalierbar | Kommerzielle Reife frühestens in den 2030ern | Langfristige Option |
| Regulatorik | Schweiz prüft neue Atomgesetzgebung | Aufwendige Zulassung, mögliche Volksabstimmung | Politisch schwierig, aber möglich |
| Abfall & Brennstoff | Thorium reduziert Langzeitabfälle, nutzt alte Bestände | Chemische Aufbereitung und Endlager bleiben nötig | Gemischtes Bild |
| Industrie & Forschung | Schweizer Know-how, PSI als Vorreiter | Serienfertigung wohl im Ausland | Chance für F&E-Standort Schweiz |
| Gesellschaftliche Akzeptanz | Versorgungssicherheits-Narrativ überzeugend | Historische Skepsis gegenüber Atomenergie | Unklar, abhängig von Kommunikation |
???? Prognose für die Schweiz
- 2026–2027: BALDER-Experiment am PSI liefert erste Daten.
- 2028–2030: Politische Debatte über neue Reaktorgenerationen und mögliche Pilotanlagen.
- 2030er-Jahre: Potenzielle Zulassung erster Demonstrationsreaktoren im Ausland.
- Ab 2040: Kommerzielle Nutzung in der Schweiz denkbar – falls Technik, Kosten und Akzeptanz überzeugen.
Kurzfristig ersetzt diese Technologie keine Solar-, Wind- oder Wasserkraft.
Langfristig kann sie aber als Grundlast-Ergänzung dienen und so die Versorgungssicherheit erhöhen, besonders im Winterhalbjahr.
???? Bedeutung für die nachhaltige Energiezukunft
Copenhagen Atomics und das PSI öffnen ein neues Kapitel: Atomenergie ohne Risiko-Rhetorik, aber auch ohne naive Euphorie.
Das Konzept des Flüssigsalzreaktors zeigt, dass Nachhaltigkeit und Hochtechnologie kein Widerspruch sein müssen. Eine wetterunabhängige, hocheffiziente Stromquelle könnte helfen, CO₂-Emissionen zu senken, Strompreise zu stabilisieren und die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren – vorausgesetzt, die Technik hält, was sie verspricht.
Für die Schweiz bietet das Projekt eine seltene Chance: Innovation made in Europe, kombiniert mit wissenschaftlicher Präzision und politischer Neutralität.
???? Fazit
Das Copenhagen-Atomics-Projekt ist kein Wunderreaktor, aber ein ernstzunehmender Technologieansatz. Es steht am Anfang, nicht am Ende eines langen Wegs.
Wenn die Schweiz Forschung, Regulierung und öffentliche Kommunikation richtig verknüpft, kann sie eine Schlüsselrolle in der sicheren Nutzung neuer Reaktorkonzepte übernehmen.
Nicht als Rückkehr zur alten Atomkraft – sondern als Fortschritt zu einer neuen, sicheren und nachhaltigen Form von Kernenergie.

