Die freie Rede ist kein Wellnessgut, sondern ein Stresstest für Demokratien. Wer Plattformen verbieten oder „vorsorglich“ sperren will, verkennt genau das – und öffnet die Tür für politisch motivierte Eingriffe in die Öffentlichkeit. In der Schweiz ist in den vergangenen Monaten eine gefährliche Tendenz sichtbar geworden: Unter dem Label „Demokratie schützen“ fordern linke und grüne Stimmen immer offensiver Eingriffe in Social Media – bis hin zu „notfalls sperren“.
Der Auslöser: Meret Schneider und die Forderung nach Sperrmöglichkeiten
Die Grüne Nationalrätin Meret Schneider erklärte in einem Interview (SonntagsZeitung; von SRF zusammengefasst), Plattformen wie X, Facebook oder TikTok könnten eine Gefahr für die Demokratie sein und man müsse sie notfalls sperren können. Die Folge: ein internationaler Shitstorm – und eine Debatte darüber, ob Demokratien Plattformen überhaupt abschalten dürfen. Dass es sich dabei nicht um eine legislative Vorlage, sondern um eine politische Forderung handelte, macht es nicht harmloser: Es verschiebt das Overton-Fenster – weg von „mehr Transparenz und Rechtsdurchsetzung“, hin zu Abschalten als Option.
Von der „Regulierung“ zum Durchgreifen: Rhetorik mit Rutschbahn-Effekt
Natürlich: Regeln für sehr grosse Plattformen sind legitim – etwa Meldewege, Transparenzpflichten, Sorgfalt bei systemischen Risiken. Aber sobald aus „Regulierung“ die Forderung nach Sperren wird, kippt der Zweck: Aus Schutz der demokratischen Debatte wird Kontrolle über sie. Genau deshalb ist die neue Sprachregel „Demokratie vor Tech-Oligarchen schützen“ heikel: Sie verknüpft ein berechtigtes Anliegen mit einem Blankoscheck für Eingriffe. Die Grünen warben im Herbst 2025 für ein „griffiges Plattformgesetz“ – in der Tonlage mitschwingend, dass bisherige Zurückhaltung des Bundesrats ein Versäumnis sei.
Parallel schlug der Bundesrat jüngst selbst vor, grosse Plattformen (Facebook, X, TikTok, Google) stärker zu regulieren – u. a. mit niederschwelligen Meldeverfahren für rechtswidrige Inhalte. Das kann sinnvoll sein. Aber solche Modelle werden schnell zur Privatzensur delegierter Moderation, wenn rechtsstaatliche Leitplanken und echte Beschwerderechte fehlen.
Das freiheitliche Gegenargument – in drei Punkten
- Meinungsfreiheit zuerst, Risiko-Management zweitens.
Die Funktion sozialer Medien ist unersetzlich: politische Mobilisierung, Whistleblowing, Gegenöffentlichkeit. Ein Staat, der „notfalls sperren“ will, droht ausgerechnet den Kanal der Opposition abzudrehen – je nach Machtlage heute links, morgen rechts. Sperren sind Notstands-Instrumente, keine Demokratieroutine. - Transparenz & Due Process statt Daumenschrauben.
Ja: Transparenz über Algorithmen, Interventionsberichte, funktionierende Meldewege – alles gut. Aber: Jede Löschung muss anfechtbar, begründet und gerichtlich überprüfbar sein. Sonst verlagern wir die Zensur nur vom Staat zu Plattformbetreibern – ohne Rechtsschutz. - Wehrhafte Demokratie ≠ wohltemperierte Debatte.
Demokratien sind robust, wenn sie Widerspruch aushalten. Der Ruf nach „sauberen“ Feeds verwechseln Zivilisiertheit mit Recht. Hassrede und Justiz-Delikte soll man verfolgen – mit bestehendem Strafrecht. Aber Vorzensur ist der falsche Weg.
Was stattdessen nötig ist (ohne Zensurrutschbahn)
- Klares Schweizer Plattformrecht mit Fokus auf Transparenzpflichten, Kooperationspflicht mit Strafverfolgung und fairen Beschwerdeverfahren – ohne Sperrautomatismen. Der Bundesrat bewegt sich hier – aber Details entscheiden, ob daraus Rechtssicherheit oder faktische Vorzensur entsteht.
- Starke Rechtsmittel für Bürger*innen gegen ungerechtfertigte Löschungen/De-Boosting (Audits, Ombudsstelle, Gerichte).
- Medien- und Digitalkompetenz statt Paternalismus: mehr Aufklärung, weniger Abschalt-Fantasien.
- Transparente politische Werbung & Bot-Bekämpfung, statt pauschaler Plattform-Sanktionen.
Fazit
Wer Plattformen „notfalls sperren“ will, stellt nicht Demokratie gegen Tech-Konzerne, sondern Freiheit gegen Kontrolle. Das ist ein Problem – egal, von welcher politischen Seite es kommt. Der Fall Meret Schneider zeigt, wie schnell die Axt an die Öffentlichkeit gelegt wird, wenn „Demokratieschutz“ zum Joker wird. Die Schweiz braucht klare, schlanke, rechtsstaatliche Regeln – aber kein Klima, in dem das Abschalten als politische Option salonfähig gemacht wird.
Hinweis auf Quellenlage: SRF hat Schneiders Aussagen, den Shitstorm und den Kontext ausführlich dokumentiert; die Grünen kommunizieren offensiv eine Plattform-Regulierungslinie; und der Bundesrat prüft/plant regulatorische Pflichten für sehr grosse Plattformen. Meinungsbeiträge wie dieser bewerten die impliziten Risiken solcher Vorschläge – gerade, wenn „Sperren“ als legitimes Instrument ins Spiel gebracht werden.

