Ein juristischer Sturm zieht auf
Zwei renommierte Völkerrechtler fordern, dass sich führende europäische Politiker – darunter die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel – vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag verantworten sollen. Der Vorwurf: mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit der europäischen Flüchtlingspolitik.
Was zunächst nach einer provokanten Schlagzeile klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Die Juristen argumentieren, dass die systematische Abschottung Europas gegenüber Geflüchteten im Mittelmeer eine humanitäre Katastrophe geschaffen hat, die juristisch nicht länger folgenlos bleiben dürfe.
Die europäische Abschottungspolitik im Fokus
Seit Jahren kritisieren Hilfsorganisationen und Menschenrechtsexperten, dass Europa nicht nur Flüchtlinge abweist, sondern mit seiner Politik aktiv Leid, Tod und Elend im Mittelmeer mitverursacht.
- Laut UNHCR sind seit 2014 über 30’000 Menschen im Mittelmeer ertrunken oder verschwunden.
- Viele Seenotrettungen wurden eingeschränkt, während die EU verstärkt mit der libyschen Küstenwache zusammenarbeitet – trotz bekannter Menschenrechtsverletzungen in libyschen Lagern.
Die Juristen sehen darin einen systematischen Verstoß gegen internationales Recht, insbesondere gegen das Refoulement-Verbot (das Zurückweisen Schutzsuchender in unsichere Staaten) und gegen fundamentale Menschenrechte, die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind.
Kein echter Haftbefehl – aber eine ernsthafte Forderung
Wichtig ist: Es existiert kein Haftbefehl gegen Angela Merkel oder andere Politiker.
Was derzeit läuft, ist eine juristische Initiative – ein Antrag bzw. eine Forderung, die beim Internationalen Strafgerichtshof geprüft werden könnte.
Der IStGH kann theoretisch gegen Staats- oder Regierungschefs ermitteln, wenn ein Verdacht auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit besteht. Doch die Hürden dafür sind enorm hoch.
Die Kläger müssten beweisen, dass europäische Politiker bewusst in Kauf genommen haben, dass Menschen sterben – als Folge staatlicher Politik.
Ein Präzedenzfall?
Ein solcher Fall wäre historisch:
Noch nie in der Geschichte der Europäischen Union wurde ein aktiver oder ehemaliger Regierungschef wegen Migrationspolitik vor dem IStGH angeklagt.
Die Frage, ob politische Entscheidungen über Grenzkontrolle oder Rettungsmissionen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gelten können, ist juristisches Neuland.
Selbst internationale Menschenrechtsorganisationen sind sich uneinig. Einige begrüssen die Debatte, andere warnen vor einer „Politisierung des Strafrechts“.
Moralische Schuld statt juristische Verantwortung
Andrea Böhm, Kolumnistin der ZEIT, ordnet das Geschehen kritisch ein. Sie schreibt:
„Es klingt verrückt – ist es aber nicht. Es ist Ausdruck eines tiefen moralischen Dilemmas Europas.“
Böhm meint damit: Auch wenn die Chancen auf eine juristische Anklage gering sind, zwingt die Initiative Europa dazu, sich mit seiner moralischen Mitverantwortung auseinanderzusetzen.
Denn: Jede politische Entscheidung, die Leben auf dem Mittelmeer gefährdet, bleibt auch ohne juristische Strafe ein moralisches Versagen.
Was sagt das Völkerrecht?
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) verfolgt vier Hauptverbrechen:
- Völkermord
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit
- Kriegsverbrechen
- Angriffskrieg
Damit der IStGH zuständig wäre, müssten folgende Bedingungen erfüllt sein:
- Es liegt eine systematische, bewusste Handlung gegen eine Zivilbevölkerung vor.
- Der betroffene Staat ist Mitglied des IStGH (Deutschland und die EU-Staaten sind es).
- Nationale Gerichte verfolgen die Tat nicht selbst.
Ob restriktive Migrationspolitik diese Kriterien erfüllt, ist unter Juristen umstritten.
Selbst Befürworter der Klage räumen ein: Die Beweislast ist schwer zu erfüllen – politisch ist sie jedoch symbolisch bedeutsam.
Ein Weckruf für Europa
Die Diskussion kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Europa seine Migrationspolitik erneut verschärft.
Neue EU-Abkommen mit Drittstaaten wie Tunesien oder Ägypten sehen vor, Geflüchtete schon vor der europäischen Grenze abzufangen.
Kritiker sprechen von einer „Externalisierung der Verantwortung“ – Europa exportiere sein Flüchtlingsproblem und blende die humanitären Folgen aus.
Die Initiative gegen Merkel ist also weniger ein Angriff auf Einzelpersonen, sondern ein Weckruf an die europäische Politik:
Wie weit darf ein Staat gehen, um seine Grenzen zu schützen – und wo beginnt die Mitschuld am Tod von Schutzsuchenden?
Schweizer Perspektive
Auch für die Schweiz ist das Thema relevant.
Als Mitglied des Dublin-Abkommens und Teilnehmerin an Frontex ist sie Teil der europäischen Migrationsarchitektur.
Zwar betreibt die Schweiz keine Seerettung, doch sie profitiert indirekt von den Grenzsystemen, die Flüchtlingsrouten verschieben.
Juristen warnen:
„Schweizer Neutralität darf keine moralische Passivität bedeuten.“
Nachhaltigkeit und Menschenrechte gehören zusammen – wer nachhaltige Politik fordert, muss auch humanitäre Verantwortung übernehmen.
Fazit: Zwischen Recht und Gewissen
Es gibt keinen Haftbefehl gegen Angela Merkel.
Aber die Forderung zeigt, dass Europas Flüchtlingspolitik einen Punkt erreicht hat, an dem juristische und moralische Grenzen verschwimmen.
Die Frage lautet nicht, ob die Politik legal war – sondern wie viel Menschlichkeit sie kostet.
Und genau das ist die Botschaft hinter dieser juristischen Provokation.
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