EU-Verträge Sozialhilfe – explodieren jetzt die Kosten?

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Quelle: Pixabay (Pixabay License) · © jorono · EU

1. Worum geht es überhaupt?

Mit dem neuen Paket Schweiz–EU sollen die Beziehungen zur EU langfristig stabilisiert und weiterentwickelt werden. Ein zentraler Teil betrifft die Personenfreizügigkeit: EU- und EFTA-Bürgerinnen und -Bürger sollen neu ein Recht auf Daueraufenthalt in der Schweiz erhalten – ähnlich wie in der EU untereinander. 

Genau dieses neue Daueraufenthaltsrecht sorgt innenpolitisch für Zündstoff. Kritiker warnen vor einer Einwanderung in den Sozialstaat und explodierenden Sozialhilfekosten, während Bund und Fachleute von moderaten Mehrkosten sprechen, die im Kontext des gesamten Sozialbudgets relativ klein seien. 


2. Was ändert beim Daueraufenthaltsrecht?

Heute erhalten EU/EFTA-Bürger in der Schweiz in der Regel nach fünf Jahren ununterbrochenem Aufenthalt eine Niederlassungsbewilligung (C-Bewilligung) – allerdings oft verknüpft mit Integrationskriterien wie Sprachkenntnissen.

Mit den neuen EU-Verträgen würde ein Daueraufenthaltsrecht nach EU-Logik eingeführt: 

  • Anspruch nach fünf Jahren Aufenthalt,

  • während dieser Zeit höchstens 6 Monate Sozialhilfebezug,

  • entscheidend ist, dass die Person als erwerbstätig gilt – Sprachtests oder Integrationsprüfungen sind nicht Voraussetzung.

Brisant ist die Definition von Erwerbstätigkeit:

  • Ein Teilzeitpensum von rund 30–40 % reicht als Richtwert,

  • in Extremfällen genügen gemäss Rechtsprechung des EuGH sogar etwa 12 Wochenstunden,

  • kurze Phasen von Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe (bis 6 Monate) gelten nicht automatisch als «erwerbslos».


3. Wie viele Menschen wären betroffen?

Gemäss Medienberichten und offiziellen Unterlagen

  • Rund 570’000–600’000 EU/EFTA-Bürgerinnen und -Bürger in der Schweiz würden mittelfristig die Kriterien für ein Daueraufenthaltsrecht erfüllen.

  • Pro Jahr kämen danach bis zu 70’000 weitere Personen hinzu, die neu die Fünfjahres-Schwelle erreichen.

Der SVP-Nationalrat und Asylchef Pascal Schmid warnt, dass dieses Recht zusammen mit der europäischen Familiennachzugslogik zu einem «Turbo-Familiennachzug» führen könne – inklusive Fällen, in denen Personen zuerst in einem EU-Staat eingebürgert und dann weiter in die Schweiz ziehen. 

Der Bundesrat betont dagegen, dass es sich um Menschen handelt, die bereits langfristig in der Schweiz leben, arbeiten und Steuern bezahlen, also um eine Gruppe, die heute schon da ist – nur eben mit weniger gesichertem Status.


4. Was bedeutet das für die Sozialhilfe?

Der Bund hat eine Regulierungsfolgenabschätzung erstellen lassen (u. a. durch Ecoplan). Die zentrale Aussage: 

  • Durch das neue Daueraufenthaltsrecht wird jährlich mit zusätzlich 3’000–4’000 Sozialhilfebeziehenden gerechnet.

  • Daraus ergeben sich Mehrkosten von rund 100 Millionen Franken pro Jahr für die wirtschaftliche Sozialhilfe.

Zum Einordnen:

  • Die Ausgaben für wirtschaftliche Sozialhilfe lagen 2022 bei rund 2,5 Milliarden Franken,

  • die gesamten Sozialausgaben der Schweiz bei rund 208 Milliarden Franken (inkl. AHV, IV, EL etc.).

Die zusätzlichen 100 Millionen entsprechen damit grob 4 % der heutigen Sozialhilfeausgaben und etwa 0,05 % der gesamten Sozialleistungen.

Fachleute wie die SKOS (Konferenz für Sozialhilfe) halten die Schätzung des Bundes für plausibel, sehen aber keine «Explosion» der Sozialhilfe. Entscheidend für die Entwicklung der Ausgaben sei weiterhin der Arbeitsmarkt – also Arbeitslosigkeit, Löhne und Konjunktur – nicht einzelne Migrationsregeln. 


5. Die Schutzklausel – Rettungsanker oder Papiertiger?

Als Antwort auf die Sorgen rund um Zuwanderung und Sozialhilfe hat die Schweiz in den Verhandlungen eine Schutzklausel durchgesetzt.

Gemäss Bundesrat funktioniert sie so: 

  • Im Gesetz werden konkrete Schwellenwerte festgelegt (z. B. zu Nettozuwanderung, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug).

  • Werden diese überschritten oder drohen schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme, muss der Bundesrat prüfen, ob die Schutzklausel ausgelöst werden soll.

  • Schutzmassnahmen könnten etwa temporäre Einschränkungen des Personenfreizügigkeitsabkommens sein.

Der Bundesrat verweist darauf, dass bei Anwendung der neuen Kriterien die Prüfung dieser Klausel in der Vergangenheit mehrfach ausgelöst worden wäre – also nicht nur auf dem Papier existiert. Bundesblatt

Kritik von rechts:

  • Die SVP bezeichnet die Schutzklausel als praktisch wirkungslos und «Lug und Trug».

  • Argument: Am Ende würden EU-Recht und das Schiedsgericht die Hürden so hoch legen, dass die Schweiz die Klausel faktisch nicht anwenden könne – ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. 

Sicht des Bundes:

  • Die Klausel sei ein reales Instrument, auf das man in Brüssel lange hingearbeitet habe.

  • Ja, sie ist an enge rechtliche Bedingungen gebunden – aber genau das sei nötig, damit die EU sie akzeptiert. 


6. Argumente im Überblick – Chancen vs. Risiken

Mögliche Chancen der neuen Regeln

  • Rechtssicherheit für gut integrierte EU-Arbeitskräfte
    Menschen, die seit Jahren arbeiten und Steuern zahlen, bekommen einen stabilen Status. Das kann die Integration stärken und den Fachkräftemangel entschärfen

  • Planbarkeit für Unternehmen
    Firmen, die auf EU-Fachkräfte angewiesen sind, erhalten mehr Sicherheit, dass diese langfristig in der Schweiz bleiben können – wichtig etwa im Gesundheitswesen oder in der Industrie. 

  • Politischer Gesamt-Deal mit der EU
    Das Daueraufenthaltsrecht ist Teil eines grösseren Pakets, das Zugang zum Binnenmarkt, Forschung, Strommarkt und andere Bereiche stabilisieren soll. Wirtschaftlich werden insgesamt positive Effekte erwartet

Mögliche Risiken und Kritikpunkte

  • Mehr Sozialhilfefälle
    Reale Mehrkosten von geschätzt rund 100 Mio. CHF pro Jahr und 3’000–4’000 zusätzlichen Bezügerinnen und Bezügern – die Frage ist, ob das politisch akzeptiert wird

  • Grosszügige Definition von Erwerbstätigkeit
    Kritiker bemängeln, dass bereits tiefe Pensen genügen und teilweise auch unregelmässige Erwerbstätigkeit reicht. Sie befürchten, dass dies als Einfallstor für «Sozialtourismus» genutzt werden könnte

  • Wirksamkeit der Schutzklausel unsicher
    Die Schutzklausel muss rechtlich sauber begründet, von einem Schiedsgericht akzeptiert und politisch durchgesetzt werden. Im Konfliktfall drohen Gegenmassnahmen der EU – ein Einsatz wäre also politisch heikel.


7. Explodieren die Sozialhilfekosten – oder bleibt es überschaubar?

Ob man von einer «Explosion» der Sozialhilfekosten sprechen will, hängt stark vom politischen Blickwinkel ab:

  • Faktisch reden wir von zusätzlichen 100 Mio. CHF auf insgesamt rund 2,5 Mrd. CHF wirtschaftlicher Sozialhilfe – und im Kontext von über 200 Mrd. CHF Sozialausgaben insgesamt. 

  • Gleichzeitig ist klar: Die zusätzlichen Ansprüche betreffen Hunderttausende Personen, die mit einem Daueraufenthaltsrecht in der Schweiz bleiben können, auch wenn sie später in finanzielle Schwierigkeiten geraten. 

Die entscheidende politische Frage lautet deshalb weniger:

«Gibt es Mehrkosten?» – die Antwort ist: Ja, aber begrenzt.

Sondern eher:
«Ist der Gesamt-Deal mit der EU – mitsamt wirtschaftlichen Vorteilen und rechtlicher Stabilität – diese Mehrkosten und das zusätzliche Migrationsrisiko wert?»

Darüber wird am Schluss das Schweizer Stimmvolk entscheiden. Bis dahin lohnt es sich, genau hinzuschauen: Was sind nachweisbare Fakten – und wo beginnt die politische Dramatisierung, sei es auf der einen oder der anderen Seite?

 

 

 

Redaktion
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Redaktion schreibt bei Nachhaltiger24 über erneuerbare energien (wind/wasser) – mit Fokus auf praxisnahe Tipps, fundierte Quellen und Schweizer Rahmenbedingungen.

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